Seit den letzten Wochen ist es das Thema im Internet: eine Kokain-Überdosis, öffentliche Crash-Outs und mentale Tiefpunkte. Die neue Netflix-Doku „Babo – Die Haftbefehl-Story“ ist seit dem 28. Oktober auf Netflix zu streamen und porträtiert die seelischen Mariannengraben-Tiefen des deutschen Gangsterrappers „Haftbefehl“. Wie wirken sich Drogenexzesse, selbstverletzendes Verhalten und Kontrollverlust auf eine Familie aus? Auf einen Künstler? Auf die Zuschauerschaft? Und können wir es als Gesellschaft verantworten, weiter wegzuschauen, während sich das Echo von Abhängigkeit einfach ungestört auf den größten Streaming-Plattformen zu vervielfachen scheint?
Warum noch eine Meinung zu Haftbefehl?
Der Star-Produzent Elyas M’Barek begleitete den Offenbacher, zusammen mit den Regisseuren Sinan Seniç und Juan Moreno, über einen Zeitraum von über zwei Jahren. Es sind die dunkelsten Ecken und Kanten seiner Karriere, die nun insbesondere auf Social Media für viel Gesprächsstoff und Sensationshunger sorgen, sodass die Kommentarspalten überkochen. Denn ja: Transparenz und Empathie sind wichtig, aber darf Schuldverlagerung und Verantwortungslosigkeit verharmlost oder gar als Unterrichtsstoff zum Idealbild gekürt werden?
Und die Moral der Geschichte … – Verklärung oder Sichtbarkeit?
Das Internet streitet sich über die kontroversen Inszenierungen von Haftbefehls Drogenmissbrauch, der sich tief in sein künstlerisches Schaffen, aber auch in private Beziehungen frisst. In der Doku, begleiten wir den Rapper von seinem Offenbacher Hochhausviertel, über seinen musikalischen Durchbruch und erleben hautnah, wie die Sucht harsch an der Tür zum Tod kratzt und klopft. Dabei fällt vor allem auf, wie die eingespielten Interviewsequenzen der Familie und die reißerischen Video-Montagen darauf abzielen, das Fehlverhalten der Industrie in ein besseres Licht zu rücken. Es fehlt schlicht und einfach eine Einordnung und vor allem auch Kritik an vorherrschenden Machtdynamiken innerhalb der Branche. Aber auch missbräuchliches Verhalten des Künstlers selbst, wird verklärt.
Gewaltromantik und der „verletzliche Künstler“ als Opfer
Ja, der Tonus der Doku nimmt kaum ein Blatt vor den Mund. Die O-Töne sind real und viele Angehörige sowie Bekannte tragen mit ihren Erzählungen und Erinnerungen zu dem Bild bei, welches Netflix malt. Aykut Anhans Geschichte darf gehört werden und wird sicherlich für viele zu mehr Sichtbarkeit von Depressionen oder Suchterkrankungen beitragen. Und dennoch: Die Art und Weise, wie eine Geschichte erzählt wird, und welchen Menschen oder Betroffenen wir eine Plattform geben, tragen immens viel Verantwortung.
Leider plädiert, meiner Meinung nach, Aykut Anhans Dokumentation statt auf Reflexion eher für eine Lossprechung und Heroisierung eines leidenden Künstler-Archetyps. Aykut versteckt sich nahezu hinter dem „Shock-Value“ der einzelnen Szenen, um einer Schuldanteilnahme zu entfliehen. Das Biopic stellt Haftbefehl in keiner Szene als Täter dar, sondern als tragische Figur. Aber auch verletzte Menschen, die unter einer Sucht leiden, sind nicht immun davor, selbst zum Täter zu werden. Seine Kinder sind aufgewachsen mit einem abwesenden Vater, lallend oder auf Koks. Sie kennen die Abstürze, die Stimmungstiefs, so wie ihre Mutter, die all das ausgleichen muss und aber auch selbst unter der emotionalen Last leidet. Bedauerlicherweise rücken diese Menschen in der Dokumentation sehr in den Hintergrund.
Das Spiel mit dem Absturz: Die Musikbranche als Mittäter
Es ist 2022, ein Abend in Mannheim: Anhan kann sich auf der Bühne gerade noch so auf den Beinen halten. Der Drogenexzess, das Erwachen auf der Intensivstation und die nächste Dosis in Griffweite. Die Produzenten sind schockiert, aber filmen trotzdem weiter. Eine Szene von vielen ähnlichen, wie wir aus der Doku entnehmen können. Die Akteure rund um Haftbefehl machen sich hinter den Kulissen mitverantwortlich für sein Verhalten, sein Leiden, und ja auch für Aykuts eigenen, missbräuchlichen Umgang mit seinen Mitmenschen. Damit meine ich konkrete Entscheidungen, die sich über das Wohl des Künstlers stellen, wie etwa eine ausverkaufte Albumtour zu promoten trotz des Wissens um den Zustand des Artists. Das „Money-Game“ billigt eine voranschreitende Abwärtsspirale, solange auf dem Weg bergab noch Geld einzusammeln ist. Die Dokumentation läuft einen akrobatischen Slalom um das Thema "fahrlässige Instrumentalisierung" und verfehlt somit einen wichtigen Punkt, am Ende des Kapitels „Babo – Die Haftbefehl-Story“ zu setzen.
Rap-Culture im Klassenzimmer?
Es ist eine in Rückblenden erzählte, fragmentierte Lebensgeschichte. Bekannte Gesichter aus der Rapper-Kultur sitzen im gut ausgelichteten Einzelinterview. Hier und da wird sich eine Kippe live vor der Kamera angezündet. Das, was wir auf unserer privaten Streaming-Leinwand von Ihnen erfahren, und die Texte, die Sie schreiben, interessieren uns als Gesellschaft nicht ohne Grund. Gerade Rap war schon immer eine Stimme für politische Botschaften und gesellschaftliche Themen. Das Genre beeinflusst Selbstausdruck, aber auch generationale und kulturelle Identifikation in Mode, Sprache und eben Musik. Deshalb sind die Debatten über eine mögliche Inklusion von Haftbefehl in den Unterrichtsstoff deutscher Schulen valide. Es geht um das Hinterfragen von Songtexten und anderen Kontroversen der Rapper-Figur Haftbefehl. Dennoch finde ich, gilt es zu hinterfragen, aus welchen Perspektiven wir Geschichten mit diversen Hintergründen erzählen wollen und inwieweit die selektive Narrative, die momentan um Haftbefehl gesponnen wird, tragbar ist. Wie viele andere Stimmen bekommen keine Plattform, und wie viel anderes Leid ist bereits durch dieses Leid entstanden?