„Warum muss ich über meine Mutter sprechen, wenn ich Deutschland erklären will? Wenn nicht ich, ihr Sohn, dann macht das einer wie Friedrich Merz bei hart aber fair, und das möchte ich ihr – eigentlich uns allen – ersparen.“
Übersetzer:in bei Arztterminen, Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen aufgrund von Aussehen oder Namen, fehlende Chancengleichheit und Bildungsungleichheit, enorme mentale Belastungen, Mangel an Vorbildern und fehlende Sichtbarkeit – das beschreibt die Realität von Migra-Kindern nur bruchstückhaft. Und obwohl das der Alltag von Millionen von Kindern und ihren Eltern ist, wird in Deutschland kein Wort darüber verloren. Das muss sich ändern. Aus diesem Grund empfehle ich heute allen das Buch von Tahsim Durgun „Mama, bitte lern Deutsch.“
Die Lebenswirklichkeit der postmigrantischen Gesellschaft
Tahsim Durgun, auch bekannt unter @tahdurr, hat sein erstes Buch veröffentlicht und jede:r sollte es lesen. In erster Linie sagt er, dass dieses Buch ihm dabei helfen wird, seine Mutter besser zu verstehen und allen anderen, Deutschland besser zu verstehen. Ob ihm ersteres gelungen ist, kann ich nur mutmaßen, zweiteres gelingt ohne Frage. Sprachgewaltig und trotzdem sehr zugänglich, klug und beobachtend, emotional und zynisch beschreibt Tahsim sein Aufwachsen in einer „Gerüstlandschaft“ in Oldenburg. Dabei geht es von seiner Grundschulzeit und dem Deutsch Förderunterricht, über zahllose Amtsbesuche, dem Aldi-Katalog auf dem Fliesentisch (den hatten wirklich alle Migra-Familien im Wohnzimmer) bis hin zu den Arztbesuchen seiner Mutter. Das Buch ist geprägt von Angst und Hilflosigkeit, die Deutschland, seine Bürokratie und Strukturen, aber auch seine Bürger:innen bei der kurdischen Familie auslösen. Tahsim erzählt voller Respekt über die Leistungen seiner Mutter und von seiner eigenen Überforderung, bereits in der Grundschule Abschiebebescheide zu entziffern und als Dolmetscher für die Eltern zu fungieren. Er beschreibt, wie es ist immer mehr und noch mehr zu geben und trotzdem nicht den deutschen Pass zu bekommen, trotzdem nicht genug zu sein. „Ich wollte dafür sorgen, dass ich, dass wir irgendwann genug sein würden.“
Ein Buch für alle
Das Wunderbare an diesem Buch ist, dass es wirklich für alle ist. Alle Migras werden Tahsims Worten mit einem dauerhaften Nicken und müden Grinsen, aber auch Verbundenheit, Trauer und Wut folgen können. Alle Nicht-Migras können in diesem Buch so einiges über Deutschland, Rassismus und Diskriminierung, ihr eigenes Verhalten und vor allem über ihren Beitrag zu dieser Gesellschaft lernen. Das Buch zieht einen sofort in seinen Bann – ich habe es an einem Nachmittag gelesen. Tahsim kompensiert die erlebte Hilflosigkeit und Angst mit (zynischen) Humor. Die Härte der Thematik wird von warmen Momenten voller familiärer Empathie und Einfallsreichtum durchströmt. Dieses Buch garantiert die gesamte emotionale Breite. Ihr werdet lachen, weinen, wütend sein, ängstlich, aber auch hoffnungsvoll und empathisch, versprochen.
Wie Deutschland den Übergang vom „Ihr“ zum „Wir“ verhindert
Zwischen dem Ende der 50er Jahre bis hin zur Mitte der 70er Jahre kamen Gastarbeiter:innen aus Italien, Spanien und Griechenland, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien nach Deutschland. 1984 singt Cem Karaca: „Es wurden Arbeiter gerufen, doch es kamen Menschen an“ in seinem Lied „Es kamen Menschen an“ – damit trifft er den Nagel auf den Kopf: Deutschland hat schon damals vehement verhindert, dass ein Gemeinschaftsgefüge entsteht. Das hält sich bis heute: Friedrich Merz spricht 2023 von „kleinen Paschas“ während er Kinder von Migrant:innen meint und Alice Weidel hetzt mit Aussagen über „Kopftuchmädchen und sonstige Taugenichtse“. Dass nicht nur die Politik den Übergang vom „Ihr“ zum „Wir“ verhindert, zeigen auch die jüngsten Wahlergebnisse: mit 20 Prozent wurde die AfD zur zweitstärksten Kraft in Deutschland gewählt. Tahsim Durgun betitelt seine persönliche Geschichte als „Eingliederungsversuch in eine geschlossene Gesellschaft“. Denn Deutschland ist genau das: eine geschlossene Gesellschaft. Es ist an der Zeit, dass eine jede und ein jeder ihr/sein eigenes Verhalten und Gedankengut hinterfragt und die systematische und strukturelle Ausgrenzung und Diskriminierung gegenüber allen Migrant:innen und BIPoCs beendet wird. Ein erster Anfang hierzu ist das Buch von Tahsim zu lesen. Denn für Änderung benötigen wir Sichtbarkeit und Empathie – wir brauchen Geschichten wie die von Tahsim und seiner Familie, denn sie ereignen sich seit Jahrzehnten millionenfach. Wir dürfen nicht zulassen, dass Hetze und Hass von Alice Weidel, Friedrich Merz und vielen weiteren Politiker:innen und Privatpersonen dazu führen, dass das „Wir“ weiterhin derartig exklusiv gehalten wird, denn das ist es nicht – Mensch sein ist nicht exklusiv.
Weitere Empfehlungen
Das Buch von Tahsim hat euch gefallen? Ihr wollt euch weitere informieren oder ihr könnt die Erfahrungen aus dem Buch teilen und braucht etwas Sichtbarkeit und Trost? Hier noch eine kleine passende Auswahl, die ich euch von Herzen empfehle:
Buch: Dschinns - Fatma Aydemir
Buch: Ein schönes Ausländerkind - Toxische Pommes
Buch: Vatermal - Necati Öziri
Song: Koffer - Apsilon
Hinweis:
Ab jetzt gibt es jede Woche einen Tipp von uns für euch! Dabei wollen wir uns thematisch nicht festlegen, sondern lieber das empfehlen, was uns bewegt hat oder beschäftigt. Freut euch drauf!