Gut zwei Wochen ist es her, dass Shelby Lynn öffentlich machte, was ihr auf einem Konzert von Rammstein in Vilnius passiert sein soll. Mittlerweile erheben mehrere Frauen schwere Vorwürfe gegen Till Lindemann. Gegenüber NDR und Süddeutscher Zeitung beschreiben sie, wie zahlreiche junge Frauen offenbar gezielt rekrutiert wurden, um mit dem Rammstein-Sänger Sex zu haben. Zwei Frauen berichten zudem von sexuellen Handlungen, denen sie nicht zugestimmt hätten. Die Frauen äußern sich anonym vor der Kamera und haben ihre Aussagen gegenüber NDR und SZ an Eides statt versichert. Die Berliner Staatsanwaltschaft hat nun Ermittlungen gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann aufgenommen.
So viel zu den Fakten. Die Vorwürfe sind schockierend, aber was mich noch mehr schockiert hat, ist die Debatte darum. Es hat mal wieder gezeigt, wie wenig wir nach #MeToo dazu gelernt haben. Wie oft habe ich gelesen, dass Till Lindemann nicht vorverurteilt werden darf, seine Schuld sei nicht bewiesen. Gleichzeitig ist es aber völlig okay, eine ganze Reihe von Frauen als Lügnerinnen hinzustellen. Die Unschuldsvermutung gilt wohl nur für die Lieblingsband, nicht für die mutmaßlichen Opfer.
Das Erschreckende daran ist, dass das mit keiner „MeToo“-Recherche besser wird, viele wissen nicht einmal, wie falsch Victim-Blaming ist. Die frauenverachtenden Pseudo-Argumente bleiben dieselben. Sowas wie „muss man halt erwarten, wenn man auf solche Parties geht“ oder „wenn man nicht Nein sagt, will man es auch“ sind nur zwei der zahlreichen, sich wiederholenden Kommentare auf Social-Media. In unserer Welt sind die Frauen wohl selbst daran schuld, wenn jemand ihnen gegenüber übergriffig ist.
Was ich auch oft lesen musste: „Sie wollen doch nur 5 Minuten Fame“. Aber mal ehrlich, wer wurde denn dadurch berühmt, wenn man sich die Fälle Bill Cosby oder Harvey Weinstein anschaut? In wenigen Monaten werden uns die Namen der Frauen nicht mehr einfallen. Zudem ist das keine Aufmerksamkeit, die man will. Sie besteht hauptsächlich aus Hass bis hin zu Morddrohungen. Das ist doch keine Aufmerksamkeit, die man freiwillig sucht.
Wann lernen wir endlich aus den ganzen „MeToo“-Debatten? Wann hören wir mit dem Victim-Blaming auf? Wieso nehmen wir Verstöße gegen die sexuelle Selbstbestimmung als normal hin? Es kommt mir so vor, als spielt Consent keinerlei Rolle in unserer Gesellschaft. Nur, weil ich als Frau auf eine Aftershow-Party von Rammstein gehe, heißt es nicht, dass ich zu sexuellen Handlungen zugestimmt habe. Anstatt Frauen beizubringen, darauf zu achten, wo man hingeht, sollten wir lieber Männer beibringen, einvernehmlich zu handeln.