Vorsichtig ziehe ich ein dünnes, schon leicht vergilbtes Blatt aus einem kleinen Kuvert und entfalte das Papier. „Entschuldige, dass ich kein Briefpapier verwende, doch ich schreibe diesen Brief in größter Eile“. Mit dieser Zeile beginnt der Brief, den mein Großvater vor über 60 Jahren erhalten hat. Einer von Dutzenden, die er bis heute aufgehoben hat und die mich ziemlich ins Grübeln gebracht haben. Denn sie zeugen von einer Zeit, in der die Kommunikation und Abmachungen noch ganz anders abgelaufen sind.
Erstmal vorweg: Ich gehöre nicht zu den Menschen, die technischen Fortschritt verteufeln oder möchten, dass Smartphones verschwinden. Nachrichten an eine Freundin in Spanien zu schicken oder den Kumpel in Hamburg anzurufen – viel zu praktisch, als sich Zeiten ohne Handy und Internet zurückzuwünschen. Verabredungen auf einen Kaffee oder ein Bier brauchen keinen ewigen Vorlauf, Verspätungen können in wenigen Sekunden mitgeteilt, Treffen verschoben und Optionen bis zur letzten Minute offengehalten werden. Als spontaner Mensch gefällt mir das in gewisser Weise.
Stressig, belastend und nervenzehrend.
Doch genau diese dauerhafte Verfügbarkeit, die Schnelllebigkeit und das ständige „alles ist möglich“ kann manchmal auch einfach stressig und belastend sein und zehrt an den Nerven. Beim Besuch meiner Großeltern kurz nach Weihnachten ist mir das so richtig deutlich geworden.
Haben wir es verlernt, uns Zeit zu nehmen?
Auslöser war die fast 60 Jahre alte Sammlung von Briefen und Liebesbotschaften, die mein Opa aus dem Dachboden hervorgekramt hat. Er lies mich die uralten Schriebe lesen und erzählte mit einer Begeisterung als wär es erst gestern gewesen, wie aufregend der Briefwechsel war und wie sehr sie jedes Mal aufs Neue gehofft hatten, Wochen im Voraus vereinbarte Treffen einhalten zu können.
„Ich freue mich, dass Du Dich nächste Woche Samstag treffen möchtest! Es ist mir nur nicht möglich um 2 Uhr da zu sein denn ich muss bis um 3 Uhr arbeiten. Ich hoffe sehr, dass Du so lange am Treffpunkt auf mich warten kannst! Ich vermisse und küsse Dich“, stand da zum Beispiel in einem diesmal auf dickem, rauem Papier verfassten Brief an meinen Großvater. Vereinbarungen wie diese brachten mich ins Stutzen: Sich Wochen im Voraus zu verabreden ohne dass es ein hin- und her mit der Uhrzeit gibt oder in letzter Sekunde ein anderer Tag vereinbart wird? Kaum noch vorstellbar.
Die ständige Verfügbarkeit engt uns ein
Ich möchte nicht romantisch verklärt klingen, denn wie bei allem gibt es immer zwei Seiten: Kommt etwas Dringendes dazwischen, warten wir nicht stundenlang aufeinander. Doch ob uns die Möglichkeit des „alles in letzter Sekunde entscheiden“ wirklich Freiheiten gibt, weiß ich nicht. Klar ist es genial ohne Einschränkung immer und überall mit jedem kommunizieren zu können und spontan - ganz nach Bauchgefühl - das zu machen, wonach uns der Sinn steht. Doch genau das empfinde ich manchmal auch als extrem einengend.
Ich habe das Gefühl, dass dieses unkomplizierte Agieren und das Verfügbarsein von mir erwartet wird. Antworte ich einen halben Tag lang nicht auf meine Nachrichten, kommen direkt Nachfragen ob alles in Ordnung sei und ob es ein Problem gäbe. Nein, das gibt es nicht. Ich vermisse es ganz einfach, ab und zu auszusteigen, abzuschalten und zwischen all den „maybes“ eine verlässliche Planung zu haben.
Zurück zur Gemächlichkeit
Ich habe es selbst bereits verlernt.
Zugegeben, ich habe es selbst bereits verlernt. Ich plane kurzfristig, sage Treffen ab, komme zu spät weil ich weiß, dass ich mich auf Whatsapp verlassen kann und gebe mir kaum Mühe beim Verfassen von Textnachrichten. Das möchte ich ändern – zumindest ein bisschen.
Das bedeutet nicht, dass ich glaube wir sollten wieder ausschließlich per Post kommunizieren und alle Verabredungen akribisch planen. Doch ein bisschen mehr Zuverlässigkeit und Mühe bei der Kommunikation kann sicher nicht schaden. Auch aus gegenseitigem Respekt und aus Wertschätzung gegenüber der in der schnelllebigen Welt immer knapper werdenden Zeit.